Die Pritsche des Buddas
- Susan Richter
- 11. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Es war einer dieser Tage, an denen Susan dachte, sie hätte das Leben endlich verstanden – natürlich zum ungefähr 347. Mal. Der Raum war wie immer: beige Wände, Boden aus Holz, der bei jedem Schritt ächzte, als wolle er sich am liebsten in Luft auflösen, bevor er ihr noch ein weiteres Mal zuhören musste. Selbst der Wind, der draußen gegen das Fenster klopfte, klang gelangweilt. Und doch saß sie da. Wieder mal. Zwischen Erleuchtung und chronischer Müdigkeit.
Und da war auch wieder Buddha. Nicht der mit dem Bauch, sondern ihre Therapeutin. Oder spirituelle Sparringspartnerin. Oder – wie Susan sie mittlerweile nannte – das menschliche Spiegelkabinett. Buddha schaffte es zuverlässig, jede ihrer noch so hart erarbeiteten Erkenntnisse in Frage zu stellen, mit einem einzigen Blick, der irgendwo zwischen „ich weiß es besser“ und „ich weiß gar nichts mehr“ schwebte.
„Leg dich auf die Pritsche, Susan“, sagte Buddha mit einer Ruhe, die entweder aus tiefer Weisheit oder kompletter Abstumpfung geboren war. Susan vermutete beides. Sie tat, was sie immer tat: Schuhe aus, Blick zur Decke, innere Abwehrhaltung auf Anschlag.
Dann kam sie, die Preisfrage, die gefühlt bei jedem zweiten Termin fiel, als wäre sie Teil eines immergleichen Skripts:
„Was ist Mitgefühl für dich?“
Susan hätte gerne gerufen: ’Ne Netflix-Doku über Pandas! – tat sie aber nicht. Stattdessen kam nur:
„Ich weiß nicht. Ich fühle nichts. Vielleicht fehlt mir das.“
Es war nicht einmal gelogen. Nur eben… bequem.
Buddha, unbeeindruckt wie ein Steingarten, nickte und sagte: „Nicht zu fühlen ist auch eine Art des Fühlens.“
Ah, der Klassiker. Der Satz, der gleichzeitig alles und nichts bedeutet. Susan blinzelte. Natürlich. Nicht fühlen ist fühlen. Leben ist sterben. Wasser ist trocken. Willkommen in der Welt der paradoxen Plattitüden mit Tiefgangs-Abo.
Und trotzdem… irgendwas in ihr zuckte. Vielleicht war es Müdigkeit. Vielleicht war es das Echo eines Gedankens, den sie seit Jahren verdrängt hatte.
„Ich habe mich um alles gekümmert… außer um mich selbst“, dachte sie.
Kitschig? Absolut. Wahr? Leider auch.
„Mitgefühl mit mir selbst…“ sagte sie leise, fast so, als würde sie sich bei sich selbst entschuldigen.
Buddha schaute sie an, als hätte Susan gerade das letzte Stück eines Puzzles gefunden, das sie gar nicht zusammensetzen wollte. Keine Engelgesänge, keine aufploppende Chakren. Nur Stille.
„Du musst nicht alles verstehen, Susan. Du darfst einfach fühlen.“
Natürlich. Einfach fühlen. Wie schwer kann das schon sein?
Susan schloss die Augen. Irgendetwas in ihr gab nach. Nicht dramatisch, kein Hollywood-Abspann mit aufsteigender Musik. Eher wie ein knarzender Schrank, der sich endlich öffnet, obwohl man ewig den falschen Schlüssel benutzt hat.
Und da war sie: nicht erleuchtet, nicht geheilt, aber vielleicht ein kleines bisschen weniger verknotet.
„Es ist okay, zu fühlen, ohne es zu erklären“, dachte sie.
Natürlich wusste sie: Morgen würde sie wieder analysieren, reflektieren und alles zerdenken. Wie gewohnt.
Aber heute? Heute war sie einfach nur ein Mensch auf einer Pritsche, der sich selbst ein kleines Stück nähergekommen war. Nicht perfekt. Nicht geheilt. Nur da. Und das war – wider Erwarten – gar nicht mal so schlecht.
Comments