Ein kleiner Funke
- Susan Richter
- 11. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Es war ein sonniger Morgen, der die Straße in goldenes Licht tauchte. Susan trat langsam in den kleinen Bäckerladen, wie sie es oft tat. Die Wärme der Sonne folgte ihr noch durch die Tür, und ein leiser Hauch von Frühling lag in der Luft.
Der Duft von frischem Brot, süßem Hefegebäck und Kaffee erfüllte den Raum. Susan atmete tief ein und erlaubte sich für einen Moment, einfach nur da zu sein. Still, inmitten des Alltags, mit der Krankheit im Gepäck, aber ohne ihr heute allzu viel Macht zu geben.
Sie ging an den Regalen entlang, blickte auf die Auslage. Und dann sah sie sie – eine Frau direkt neben ihr an der Theke. Gepflegt, elegant, mit einem Mantel, der ihr Selbstverständnis von Würde unterstrich. Das Make-up war makellos, das Lächeln eingefroren wie Porzellan.
Die Verkäuferin fragte: „Kakaopulver?“
Und die Frau antwortete fast zögerlich: „Ja, bitte.“
Susan bemerkte, wie die Frau dabei ein Stück Kuchen betrachtete, das sie sichtlich zögerlich auswählte. Ihre Hand zitterte leicht, als sie es zeigte.
„Ich nehme es für meinen Mann“, sagte sie leise, fast entschuldigend.
Susan spürte in diesem Moment etwas in sich aufsteigen – nicht Mitleid, sondern ein stilles Verstehen. Sie kannte diese feinen, kaum sichtbaren Risse. Die Art, wie Menschen ihre Erschöpfung mit Eleganz tarnen. Die Frau wollte gesehen werden, schön bleiben, stark sein. Und sie wollte sich selbst nicht verlieren, während jemand, den sie liebte, krank war.
Und plötzlich wurde Susan ganz ruhig. In ihrem Inneren war da etwas, das aufstand, ohne laut zu sein.
Mitgefühl.
Nicht das, das nach außen drängt oder tröstet, wo kein Trost gefragt ist. Sondern ein Mitgefühl, das fühlte, ohne zu greifen.
Sie blickte die Frau an – nicht aufdringlich, nicht mitleidig. Nur ein Blick, ein stilles Lächeln. Und in diesem Blick schenkte sie der Frau ein winziges Stück ihrer eigenen Kraft.
Ein stummer Funke: Ich sehe dich. Du musst dich nicht erklären.
Und gleichzeitig wurde Susan etwas klar: Genau das will ich für meine Familie nicht.
Sie wollte nicht, dass ihre Krankheit zur Last wird. Nicht, dass jemand sich selbst aufgibt, um sie zu tragen. Nicht Opfer, nicht stille Schuld, nicht das Zerren am Leben.
Dieser Gedanke kam nicht mit Schwere, sondern ganz sanft. Ohne Härte. Ohne Drama. Und vielleicht war genau das Mitgefühl – wenn man sich selbst liebevoll begegnet, ohne sich zu schonen, aber auch ohne sich zu verurteilen.
Die Frau sah sie kurz an, überrascht von Susans stillem Lächeln. Und für einen Augenblick löste sich etwas in ihrem Gesicht. Ein Hauch von Erleichterung. Vielleicht nur ein Flimmern. Aber spürbar.
Sie verließen beinahe gleichzeitig den Laden.
Später, im Drogeriemarkt, standen sie plötzlich wieder nebeneinander – bei den Lippenstiften.
Susan, sonst zurückhaltend, machte etwas Ungewöhnliches. Sie sprach die Frau an:
„Ich bin immer mit meinem Hund unterwegs… habe kaum Zeit, mich schön zu machen. Welchen Lippenstift würden Sie nehmen?“
Die Frau sah auf. Ein Erkennen huschte über ihr Gesicht.
„Ach… Sie sind es. Sie haben so eine schöne Figur.“
Dann, fast beiläufig:
„Aber was nützt das, wenn man krank ist?“
Susan nickte ruhig. Keine Bitterkeit.
„Ich habe Parkinson“, sagte sie.
Einfach so. Kein Drama. Kein Schutzschild.
„Ich versuche, damit zu leben – nicht zu kämpfen, sondern zu gehen. Jeden Tag, wie er kommt.“
Die Frau sah sie lange an. In ihren Augen lag etwas Weiches. Etwas, das durchbrach.
„Mein Mann ist sehr krank“, sagte sie. „90 Jahre. Ich kümmere mich um ihn… manchmal weiß ich nicht, wo ich selbst bleibe.“
Und da war er wieder – dieser Funke. Dieses stille Teilen. Kein Mitleid. Keine Lösung. Nur der eine Satz von Susan:
„Es ist nicht immer leicht. Aber es ist mein Leben. Und ich möchte, dass meine Familie frei ist.“
Die Frau schwieg. Dann nickte sie langsam. Und für einen Moment waren beide einfach nur da – zwei Frauen, zwei Leben, zwei Welten, die sich berührten.
Susan nahm den Lippenstift, den die Frau ihr empfohlen hatte.
„Ich glaube, ich nehme den.“
„Der passt zu Ihnen“, sagte die Frau.
Ein zartes Lächeln, ein stilles Einverständnis. Kein großes Gespräch. Und doch alles gesagt.
Als Susan aus dem Laden trat, spürte sie die Sonne wieder auf ihrem Gesicht.
Sie ging langsam die Straße entlang. Mit der kleinen Tüte vom Bäcker, mit dem neuen Lippenstift in der Tasche – und mit etwas ganz anderem im Herzen.
Ein Moment von Mitgefühl.
Für die Frau.
Für sich selbst.
Sie fragte sich leise:
„Hatte ich Mitgefühl mit mir selbst?“
Und die Antwort kam nicht als Gedanke, sondern als Gefühl:
Wärme. Weich. Wahr.
Ja.
Sie hatte.
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