Der erste Tag
- Susan Richter
- 14. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Kapitel 2
Loki kam nicht einfach in das Haus. Er schlich sich hinein, als wäre er unsicher, ob er wirklich bleiben durfte. Eine Dame vom Tierschutz begleitete ihn an diesem ersten Tag. Sie sprach ruhig mit ihm, versuchte, ihn zu beruhigen, doch Loki zog sich zurück, beobachtete die Familie mit vorsichtigen Augen, die mehr zu erzählen schienen, als es Worte je könnten. Vertrauen? Noch keines.
Er war ein Border-Collie-Mischling, aber an diesem Tag wirkte er eher wie ein Fremder in seiner eigenen Haut. Kein Schwanz wedelte, kein neugieriger Blick, kein fröhliches Gebell. Nur Stille, eine Stille, die sowohl ihm als auch der Familie vertraut war. Loki hatte keinen Schwanz. Es war eines der vielen Zeichen seiner schwierigen Vergangenheit. Sein Körper war dünn, fast mager für seine Größe. Man konnte die Rippen unter seinem zotteligen Fell sehen – ein stiller Zeuge von Entbehrung und Schmerz.
Als ihm das Futter hingestellt wurde, fraß er nicht. Nicht aus Trotz, nicht aus Ablehnung, sondern weil tief in ihm etwas lag, das er nicht loslassen konnte. Das Misstrauen, das er in sich trug, war stärker als der Hunger. Seine Seele war noch nicht bereit, sich zu öffnen.
Er hatte keinen Schwanz, der freudig in die Luft hätte geschwungen werden können, doch Loki sprach auf seine eigene Weise – mit seinem Gesicht. Mit seinen Augen. Sie erzählten eine Geschichte, die er nicht laut aussprach. Und später, viel später, würde er auch lächeln. Doch nicht an diesem Tag. An diesem Tag war er noch vorsichtig, zurückhaltend.
Susan saß auf dem Sofa und spürte die Unruhe in sich. Es war keine Unruhe, die vom Zittern kam – es war die Unruhe des Herzens. Eine Unruhe, die nicht nach Ruhe verlangte, sondern nach einem tiefen Verständnis. Sie wusste, was Loki brauchte. Sie wusste, dass es Zeit brauchte, dass alles Zeit brauchte. Und sie wusste, dass sie einander brauchten. Doch sie drängte ihn nicht, gab ihm Raum und ließ ihm die Zeit, die er brauchte.
Die Familie war noch nicht mit einem Hund vereint. Noch nicht. Loki machte Arbeit. Er machte Dreck. Er hinterließ Spuren. Und ja, er schränkte ihre Freiheit ein. Aber das waren nur die oberflächlichen Sorgen. Susan wusste, dass es nicht nur um das ging, was ein Hund „macht“ – es ging darum, was er ist.
Es war kein leichter Weg. Ihr Mann, der das alles realistischer sah, sprach oft von der Verantwortung, von den Einschränkungen. „Ein Hund macht nur Arbeit. Mit einem Hund können wir nirgendwohin fahren.“ Doch Susan wusste, dass es mehr war als das. Es war nicht nur eine Frage der praktischen Aspekte des Lebens, es war eine Frage von etwas viel Tieferem.
Es ging nicht um den Hund.
Es ging um sie.
Susan kämpfte nicht gegen Loki, sondern für ihn. Für die Chance, dass er sich öffnete, dass sie sich gegenseitig fanden. Es war nicht einfach und oft nicht klar. Aber sie wusste, dass sie diesen Weg gehen musste. Denn dieser Hund, dieser stille Begleiter, gab ihr mehr, als sie in diesem Moment verstehen konnte.
Und so traf sie ihre Entscheidung. Sie entschied sich, mit ihm zu gehen, Schritt für Schritt. Und Loki blieb.
Kommentare